Leseprobe
Stimmen
Für Höller will ich mich nicht erinnern. Dabei ist das Erinnern auch bloß eine Spielart des Vergessens. Vor allem im Hinblick darauf, dass noch jede Erin-nerung irgendwann zur leeren Larve geworden ist, blutleer und wirklich: zum Vergessen. Und in Wahr-heit hilft das Erinnern meinem allmählichen Ge-dächtnisverlust auf die Sprünge. Aber Höller ist da zu praktisch veranlagt… Irgendwann werden sie alle abgenutzt sein, die Leitfossilien und Sedimente, die isolierten Düfte, die Klangnarben auf der Ohr-membran, die Geschichten und Reflexe. Ich könnte ihm auch sagen: Ich hätte Höller auch sagen können, dass die Bedeutungen irgendwie aus ihren Begriffen herausfallen, sich langsam aus ihrer Form zu lösen beginnen wie der in Eisenoxiden gebun-dene Sauerstoff der Urozeane. Oder wie freie Radikale – hätte ich sagen können – zu geduldigen Wortzersetzern werden. Als etwas Unaussprech-liches haften sie plötzlich an jeder Silbe wie an jeder noch so kleinen Einheit das Astronomische, Maßlose, Unfassbare: Amöbe, Trilobit, Farn … Soll verstehen, wer will – mir wurde schwindlig, als ich las, dass sich das fallende Laub im Herbst messbar auf die Erdgeschwindigkeit auswirkt. Es beginnt einem der Kopf zu dröhnen, wenn man die Wörter von ihrer Unschuld befreit. Sie aus ihren grauen Zellen, aus der Vorstellungsscheue entlässt. Wie die Geier schwirren sie einem um den Schädel. Ich verliere mich dann nicht selten in Versatzstück-handlungen. Sammle allerhand vom Boden auf, nur um das Gefundene am Ende wieder wegzuwerfen. Ich sage nichts, biete Höller stattdessen etwas zu trinken an. Er lehnt ab. Gemeinsam warten wir, bis er wieder geht.
Nach Sonnenuntergang falte ich mich nach innen. Liege auf dem alten Kanapee und versuche, mich nicht zu bewegen, weil die Federn erbärmlich quietschen. Die Nacht wickelt mich ein in ihren daunigen Schatten. Ich bin dann etwas mehr bei mir und ein bisschen weniger ein anderer. Werde zum Silbenklauber, zum Wortepflücker … ohne aber je sofort etwas aufzuschreiben. Das Meiste merke ich mir. In Gedanken formuliere ich Neues und wieder-hole ständig das zuvor Gedachte. Das macht mich ruhig. Mitunter drängt sich plötzlich das Rauschen des Flusses in mein Gehörfeld, und ich bin ein wenig froh, weil ich dann weiß, dass er immer da ist. Schon immer da war. Vielleicht denke ich auch an Bärlapp-Flechte-Farn: Bindfäden in die Tiefenzeit.
Am Morgen bin ich sehr unbestimmt, und um mich herum befindet sich alles in der formativen Phase. Ich schlafe in Etappen. Dazwischen erhole ich mich von den Traumsequenzen. Höre auf das Scharren in den Wänden: Ich glaube, die Ratte ist zurückge-kommen. Das hängt vielleicht auch mit dem letzten Erscheinen des Hundes zusammen. Irgendetwas war anders, das spürte ich sofort. Er blieb zwar anfangs noch auf Distanz, begann aber nach einer Weile um mich zu kreisen, zuerst in weiten, dann in immer engeren Bahnen, ohne aber in mich hinein-zustürzen. Schließlich war er kaum noch eine Arm-länge von mir entfernt, sah mit sehr schwarzen Augen zu mir hoch, und da erst erkannte ich: dass er etwas im Maul hatte. Er ließ es fallen und rannte wieder davon. Ich blickte nach unten. Zu meinen Füßen sah ich die Überreste der verbrannten Ratte liegen.
Im Grunde hat sich nicht viel verändert, seitdem ich nicht mehr gezwungen bin, die Fußfessel zu tragen. Ich brauche lediglich nicht mehr vorzugeben, am Arbeiten zu sein, und muss auch keine fingierten Rechnungen mehr schreiben. Höller hat sein Kommen meistens angekündigt, die Festlegung des Aufsichtsprofils erfolgte immer am Montag. Da war es nicht schwierig, die Werkstatt so aussehen zu lassen, als würde in ihr emsig gearbeitet. Ein Beamter der Justizanstalt hat sich nur ein einziges Mal hierher verirrt: Unangekündigt stand er plötzlich in der Werkstatt, die Klingel zu benutzen hatte er nicht für nötig gehalten. Ich war gerade mit meiner wöchentlichen Inventur beschäftigt, was wohl aus-reichte, um vor dem Justizbeamten den Eindruck zu erwecken, als ginge ich meiner Arbeit nach. Er stellte mir ein paar unverfängliche Fragen die Auftragslage und dergleichen betreffend, warf einen kurzen Blick in meine vorgetäuschte Buchhaltung und ging wieder.
