Leseprobe
Stimmen
Das Bett steht mitten im Raum. Die Großtante will es so. Die Großtante verlangte nach Licht. Sie verdächtigte uns, sie erblinden zu lassen. Ihre Netzhaut würde rissig vom vielen Schauen in die Dunkelheit, sie schlafe ja kaum noch. Frau Althaus öffnete das Fenster und die Läden. Der Wildbach wurde zum Vordergrundrauschen. Auch die Dunkelheit könne blenden, sagte die Großtante, während Frau Althaus damit begann, sie zu waschen. Was soll ich bloß tun, fuhr sie fort, wenn ich mich bereits in der Morgendämmerung krümme wie ein lichtscheues Insekt und mich augenblicklich in die Geborgenheit des Schlafs wünsche? Manch mal bleibe sie bis zum Abend in der Dämmerung stecken, wie in einem Tellereisen bleibe sie darin gefangen, und sie habe dann nichts als die Vorstellung von einem gelungenen Tag. Etwa in der Form einer vollkommenen Bewegung: eine in sich vollkommene Tagesbewegung, etwas Fließendes, ein schwereloses oder unbeschwertes Ineinandergreifen von Kleinundkleinstsequenzen ohne Zahl, eine Langsamkeit, keine träge, vielmehr eine tragende. Frau Althaus machte sich daran, die Großtante mit Wundtüchern zu versorgen. Ich wandte mich ab und blickte aus dem Fenster. Draußen nach wie vor Nebel. Zu dieser Zeit – die Großtante hatte sich mir, sichtlich zum Missfallen der Althaus, umständlich zugewandt –: „In dieser Jahreszeit wird das Dorf nicht selten zur Nebelsenke, treibt sein Verwirrspiel mit Mensch und Tier. Früher oder später muss man darin verloren gehen.“ Überhaupt könne das Wetter hier verrücktspielen, ein Ärgernis sei das, sie habe ja das Sensorium einer Mehr fachamputierten. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich zu ihr ans Bett. Wie meine Reise gewesen sei, fragte sie mich, ohne allerdings eine Antwort abzuwarten. Ihr selbst sei das Reisen – und dabei nicht zuletzt das Reisen mit dem Zug – immer der In begriff des Aufbruchs gewesen, jedesmal habe sie bereits beim Betreten des Bahnsteigs gespürt, wie etwas in ihr aufbrach, sich ihr die Sinne und da bei vor allem ihr Innenohr öffneten ohnegleichen. Eine Art Tonikum für die Vorstellungskraft sei das, eine fieberhafte Erwartung, in der alles möglich scheine. Und das, obwohl sich, wie sie mir sagte, ihre Vorfreude jedesmal in Ernüchterung verwandelt habe, sobald ihr Zielort erreicht gewesen sei. Ankommen sei nie ihre Sache gewesen.
Auf eine sternenklare Nacht folgte heute neuerlich ein sich in die Länge ziehender Nebeltag. Du wirst sehen, rief die Großtante beinahe, nicht mehr lange, und die Leute werden anämisch und hohlwangig in diesem fortwährenden Grau! Früher oder später – eher früher – müsse das zu Gemütseskalationen führen. Bei sich selbst könne sie feststellen, dass spätestens am Mittag die Kopfarbeit die ersten Abnutzungserscheinungen zeitige. In ihrer Vorstellung stehe dann alles völlig unbeweglich an seinem Platz. Wie in einem Schaukasten. Selbst der Wildbach komme zum Stillstand. Zwar sei sein Klangbild ein deutliches, aber keins, das eine Bewegung verrate. Der Bach erscheine ihr starr, wie der Weiher im Innersten Hof. Ob ich schon dort gewesen sei? Der Vater, fuhr die Großtante fort: Vor bald achtzig Jahren sei der Vater dort ins Wasser gegangen. Sie machte eine kurze Pause. Der Weiher im Innersten Hof sei nicht wirklich tief, aber tief genug, um mit mehreren Kleiderlagen übereinander ertrinken zu können. Der Grischa, der Hund des Vaters, habe noch tagelang an Ort und Stelle jaulend und winselnd das Ableben seines Herrchens beklagt. Wenn sie so kopfzahm daliege, vermeine sie, das Echo dieser Klagelaute deutlich zu vernehmen. Für einen Moment glaube sie dann an eine Art Klangerhaltungssatz: Selbst wenn diese Laute in ihr verstummten … Gemeinsam hörten wir in die Stille. Ich kenne die Waldundwiesenstille, die Stille nach dem Sturm. Die Stille des Atempendels. Die Herzensstille einer Nacht in der Nacht. Die Stille nach einem richtigen Wort zur falschen Zeit. Ich kenne die Stille, die entsteht, wenn man fühlt, dass das eigene Leben genauso maßlos, genauso vergeblich ist wie jedes.